
Bremen (dpa) – Von der Flut überraschte Wattwanderer, Segler in Seenot oder verunglückte Angler: Wenn jemand vor der deutschen Küste in Not ist, rücken die Seenotretter aus. Seit 160 Jahren sind die Besatzungen rund um die Uhr im Einsatz. Wie sich die Arbeit der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) im Laufe der Jahre verändert hat:
Was passierte mit Menschen in Seenot vor Gründung der DGzRS?
Schon immer gab es vereinzelt Versuche, Menschen in Seenot zu helfen. Doch die arme Küstenbevölkerung hatte keine Ausrüstung dafür und spekulierte insgeheim darauf, dass Waren ohne Besitzer an den Strand gespült werden. «Von daher gab es auch kein großartiges Interesse an Überlebenden nach Schiffskatastrophen», erzählt Christian Stipeldey von der DGzRS. Viele seien ohnehin überzeugt gewesen, dass Unglücke auf See gottgegeben und damit unabwendbar waren.
Wann wurden die Seenotretter gegründet?
Nach Schiffsunglücken mit vielen Toten im 19. Jahrhundert wollen Navigationslehrer Adolph Bermpohl und Rechtsanwalt Carl Kuhlmay die Untätigkeit nicht länger hinnehmen. «Es erscheint an der Zeit, endlich auch für Deutschlands Küsten Rettungsstationen zu errichten», heißt es in einem Schreiben von damals. Im Jahr 1861 gründet Oberzollinspektor Georg Breusing in Emden den ersten Verein, es folgen weitere.
Der Bremer Redakteur Arwed Emminghaus drängt schließlich darauf, dass sich die Vereine zusammenschließen. Nur gemeinsam können sie die Rettung von Menschen in Seenot entlang der gesamten deutschen Küste bewältigen. Wenige Jahre später ist es so weit: Am 29. Mai 1865 wird in Kiel die DGzRS gegründet.
Mit welchen Herausforderungen hatten die Seenotretter anfangs zu kämpfen?
In den ersten Jahren müssen die Seenotretter Überzeugungsarbeit leisten. Sie brauchen dringend Geld, Freiwillige und die notwendige Ausrüstung. «Es gab nicht an allen deutschen Küstenplätzen schon regionale Vereine», berichtet Stipeldey. «Gerade im Bereich der Ostsee hat es lange gedauert.» Doch 25 Jahre später reihen sich entlang der Küste rund 100 Rettungsstationen.
Die Seenotretter organisieren anfangs Ruderrettungsboote aus dem Ausland, aber diese sind zu schwer für den Dünensand an der deutschen Küste. Also beginnen sie eigene Boote zu entwickeln.
Wie haben sich die Schiffe im Laufe der Jahre verändert?
Schon damals unterscheiden sich die DGzRS-Boote von herkömmlichen Ruderbooten: Sie verfügen über spezielle Luftkästen und Klappen, über die hereinschwappendes Wasser wieder abfließen konnte. Die Boote lagern in Schuppen und werden im Notfall auf einem von Pferden gezogenen Wagen möglichst nah an die Unglücksstelle transportiert und dort ins Wasser gelassen.
1911 beginnt die Motorisierung der Rettungsflotte. Die Boote werden gedeckt, um die Besatzung vor dem Wasser zu schützen. 1957 kommt mit der «Theodor Heuss» der erste moderne Seenotrettungskreuzer zum Einsatz, mit einem Tochterboot für flache Stellen.
Die heutigen Schiffe können sich bei hohen Wellen selbst wieder aufrichten. Momentan werden ein neuer Seenotrettungskreuzer mit Tochterboot und ein neues Seenotrettungsboot entworfen und gebaut. «Das sind Vollkunststoffboote, die bestehen aus demselben sehr widerstandsfähigen Kunststoff wie ein Bobbycar», erklärt Stipeldey.
Wie viele Schiffe hatten die Seenotretter schon im Dienst?
Die Spezialschiffe bleiben etwa 30 Jahre lang im Einsatz auf Nord- und Ostsee. Wenn die Technik überholt ist und Ersatzteile schwierig zu bekommen sind, werden sie ausgetauscht. Die DGzRS hatte nach eigenen Angaben bisher mindestens 200 Ruderrettungsboote, 70 Motorrettungsboote, 50 Seenotrettungskreuzer mit Tochterboot und 90 Seenotrettungsboote im Dienst.
Wenn die Seenotretter ihre Schiffe ausmustern, werden sie verkauft – an Rettungsstationen im Ausland, an die Offshore-Industrie, an Museen oder an Privatpersonen. Allerdings dürften Wartung und Pflege der Schiffe nicht unterschätzt werden, sagte der Sprecher der DGzRS. «Nicht umsonst sind da immer vier Mann rund die Uhr an Bord und pflegen dieses Schiff. Die Unterhaltskosten sind gewaltig für Privatmenschen.»
Inwiefern hat sich die Arbeit der Seenotretter verändert?
Noch bis nach Ende des Ersten Weltkriegs versuchen die Seenotretter, möglichst vom Land aus Hilfe zu leisten. Sie feuern mit einer Rakete eine Leine an Bord des jeweiligen Schiffes. An der Leine befindet sich eine sogenannte Hosenboje, also ein Rettungsring mit einer angenähten kurzen Hose. Die Person in Seenot steigt in die Hose und wird an der Leine vom Schiff an Land gezogen.
Wenn das nicht möglich ist, steigen zehn bis zwölf Seenotretter mit Ölzeug und Korkwesten in das Ruderboot. Stundenlang, manchmal sogar tagelang, rudern sie gegen Sturm und Strömung. «Alle wurden bis auf die Haut nass», erzählt Stipeldey. «Das war nicht nur sehr anstrengend, sondern auch sehr gefährlich.»
Während die Seenotretter Mitte des 19. Jahrhunderts zu rund 50 Einsätzen pro Jahr ausrücken, sind es inzwischen rund 2.000 Einsätze jährlich. Die Besatzungen sind heutzutage 14 Tage rund um die Uhr im Dienst, leben in der Zeit an Bord des Schiffes oder direkt am Hafen. Sie müssen in der Lage sein, das Schiff zu steuern, die Maschinen zu bedienen und Erste Hilfe zu leisten. «Der große Unterschied ist eigentlich, dass man die Kräfte heute für den eigentlichen Rettungseinsatz sparen kann.»
Wie viele Menschen haben die Seenotretter gerettet?
Aktuell helfen die Seenotretter zwischen 3.000 und 3.500 Menschen pro Jahr auf Nord- und Ostsee. Nicht alle sind in Seenot oder schweben in Lebensgefahr. Die Besatzungen transportierten beispielsweise auch Kranke und Verletzte zum Festland oder packen bei technischen Problemen mit an. Seit ihrer Gründung haben sie mehr als 87.300 Menschen geholfen.
Leben und Sterben an Bord: Wie viele Babys sind auf die Welt gekommen und wie viele Seenotretter sind ums Leben gekommen?
Seit 1954 sind 14 Kinder an Bord zur Welt gekommen – neun Jungen und fünf Mädchen. Weitaus öfter sind die Seenotretter mit dem Tod konfrontiert: Sie müssen Leichen aus dem Wasser ziehen und zusehen, wie gerettete Menschen die Fahrt zum Festland nicht überleben.
Um andere zu retten, bringen sich die Besatzungen selbst in Gefahr. 45 Seenotretter haben bei einer Übung oder einem Einsatz bisher ihr Leben verloren. Der letzte tödliche Einsatz liegt 30 Jahre zurück: In der Nacht auf den 2. Januar 1995 verunglückt der Seenotrettungskreuzer «Alfried Krupp» auf der Rückfahrt nach Borkum. Zwei Seenotretter werden von Bord gespült und überleben den Sturm nicht.
Jeder Einsatz sei freiwillig, betont der Sprecher der DGzRS. «Sich einer Gefahr auszusetzen, das verlangt keiner.» Er wisse jedoch von keinem Seenotretter, der im Notfall lieber an Land geblieben ist. Das Risiko sei allen klar. «Das Bewusstsein ist dafür da, auch in den Familien.»
Wer arbeitet bei den Seenotrettern?
Früher waren die meisten Seenotretter Fischer, Seeleute oder Lotsen. Viele seien einfach mit an Bord genommen worden, sagte Stipeldey. «Wir haben heute noch Seenotretter, die vor 40, 50 Jahren per Handschlag zum Seenotretter geworden sind, weil der alte Vormann gesagt hat: „Ich nehme dich jetzt mit.“»
Schon damals seien Frauen an Bord gewesen und es werden zunehmend mehr: Inzwischen sind mehr als 100 Seenotretterinnen im Einsatz. Zur Crew gehören heute rund 800 Freiwillige und 180 Festangestellte. Unter den Festangestellten sind viele Kapitäne, die nach ihrem Einsatz auf hoher See lieber sinnstiftend in Heimatnähe arbeiten.
Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, um Seenotretter zu werden?
Wer Mitglied der Besatzung werden will, muss mindestens 18 Jahre alt sein. Unabhängige Ärzte müssen zudem feststellen, dass die Person tauglich für den Seedienst ist. Nautische Kenntnisse seien keine Voraussetzung, betont Stipeldey. Freiwillige lernen in einem Trainingszentrum alles, was sie für den Einsatz an Bord können müssen. Festangestellte durchlaufen eine zweijährige Qualifizierung, während der sie bei Bedarf auch Patente für die Schifffahrt erwerben können.
Wie kann ich die Seenotretter sonst unterstützen?
Die Seenotretter finanzieren ihre Arbeit nur mit Spenden, eine staatliche Förderung gibt es nicht. Seit 150 Jahren sammelt die DGzRS mit Spendenbüchsen in Form eines Ruderboots Geld für ihre Arbeit. Bis zu einer Million Euro kommen so Jahr für Jahr zusammen. Doch das reicht noch lange nicht: Im vergangenen Jahr hatte die DGzRS Kosten in Höhe von rund 58,8 Millionen Euro.
Neue Gebäude oder Boote werden unter anderem mit Geld aus Nachlässen finanziert. Wer den Großteil der Kosten für einen Neubau übernimmt, kann einen Vorschlag für den Namen eines neuen Bootes einbringen.
Auf welche zukünftigen Herausforderungen stellt sich die DGzRS ein?
«Die Herausforderungen an die Seenotretter werden in Zukunft in allen Bereichen weiter wachsen», meint Stipeldey. Der Verkehr auf See nehme zu – im Wassersport, in der Berufsschifffahrt und in der Industrie. «Jetzt wird es dann noch neue Windparks geben, die sehr weit draußen liegen. Da ist die Frage, ob Schiffe dann eines Tages noch das Mittel der Wahl sind oder nur noch Hubschrauber fliegen, so weit raus.»
Anders als in anderen Ländern übernimmt die DGzRS hoheitliche Aufgaben, sie koordiniert also alle Rettungseinsätze in der deutschen Nord- und Ostsee. Damit sind die Seenotretter auch bei großen Unglücken im Einsatz, wenn bei der Bergung besondere Auflagen für den Umweltschutz oder industrielle Gefahren beachtet werden müssen.